Ziele
Die Arbeitsgruppe "Postwar Futures" hat zum Ziel, ausgehend von der Betrachtung der 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den vergangenen und zukünftigen Status "Europas" zu erforschen. Im Zentrum stehen dabei Themen, die den Anschluss an aktuelle Fragen unserer Disziplin mit dem Ziel einer unhierachischen Kunstgeschichte möglich machen sollen: Wiederaufbau bzw. Neubau von Siedlungsräumen, Konzepte von Einrichtung und Alltagsdesign der Wohnräume und Arbeitsplätze, Erinnerungskultur, Dekolonisierung und Neo-Kolonisierung, Popularisierung von Kunst durch Ausstellungen und Massenmedien, Formen der gemeinschaftlichen Kunstpraxis, Identitätsdiskussionen.
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Aims
The aim of the "Postwar Futures" working group is to explore the past and future status of "Europe" based on an examination of the 20 years following the end of the Second World War. The focus is on topics that should enable us to connect with current issues in our discipline with the aim of a non-hierarchical art history: Reconstruction or new construction of settlement areas, concepts of furnishing and everyday design of living spaces and workplaces, culture of remembrance, decolonization and neo-colonization, popularization of art through exhibitions and mass media, forms of communal art practice, discussions of identity.
Postwar Futures:
Europa nach dem Krieg 1945–1965
Einführung
Die Arbeitsgruppe erforscht, ausgehend von der Betrachtung der zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den vergangenen und zukünftigen Status „Europas“ für die moderne Kunstgeschichte. Wir sind nicht nur daran interessiert, die Kunst und die visuelle Kultur aus dieser Zeit neu zu untersuchen, sondern auch die Modelle der (Kunst-)Geschichte, die daraus entstanden sind, zu hinterfragen und aufkommende Narrative zu reflektieren – Untersuchungsschwerpunkte, welche in unserem Titel „postwar futures“ zusammengefasst sind. Wie wird die Erzählung der Geschichte eines Europas der Nachkriegszeit in 50 Jahren aussehen? Welche neuen Begriffe und Konzepte werden benötigt, um Europa angesichts der Expansion des Fachbereichs angemessen zu „dezentrieren“, ohne mögliche Errungenschaften preis zu geben? Wie definieren wir Kategorien wie „Nachkrieg“ neu, wie es etwa Hannah Feldman angesichts des Fortbestehens von Neokolonialismus und Neoimperialismus – als Krieg mit anderen Mitteln – gefordert hat (Feldman 2014), zumal wir wieder in Kriegszeiten leben? Welche Formen der kollaborativen Forschung können über geographische Grenzen hinweg entwickelt werden?
Die Arbeitsgruppe ist nach vier großen Forschungsbereichen organisiert, die jeweils einen noch nicht ausreichend untersuchten Aspekt in den Blick nehmen: Kunst als Handwerk (Prozesse), Das Erbe der Aufklärung und seine Herausforderungen (Öffentlichkeiten); Universalität vs. Diversität (Institutionen); Geschichtsbilder als Zukunftsbilder? (Historiografien). Im Fokus stehen daher die Felder, auf denen es zu Berührungen kommen konnte: Diskussionen über den Wiederaufbau bzw. über Neubau mit der Gestaltung von Orten der Gemeinschaft und urbanen Räumen; Konzepte von Einrichtung und Alltagsdesign der Wohnräume und Arbeitsplätze; Erinnerungskultur; Dekolonisierung und Neo-Kolonisierung; Popularisierung von Kunst durch Ausstellungen und Massenmedien; Formen gemeinschaftlicher Kunstpraxis, etc. Ziel ist es, mit einer Neuperspektivierung auf die Nachkriegszeit in Europa an einem Instrumentarium zu arbeiten, das die bislang in der etablierten Kunstgeschichte marginalisierten Handlungspositionen gleichwertig einbezieht.
Auch wenn im Arbeitskreis dezidiert die Jahre 1945-1965 nicht als vorbereitender Transit, sondern als eine eigene Zeit mit ihren spezifischen Kontexten in den Blick genommen werden sollen, sind Aufschlüsse für weitere Entwicklungen zu erwarten, mit denen sich zugleich die zu problematisierende Kategorie „Europa“ besser wird fassen lassen. Als Klammer haben wir das Weltkriegsende durch die Kapitulationserklärungen von Deutschland und Japan 1945 sowie das Erscheinungsjahr von Anni Albers' On Weaving 1965 für unsere Untersuchungen gewählt. Während das eine Datum durch ein einschneidendes historisches Ereignis markiert ist, kann man das andere als vorläufigen Abschluss in einem Prozess von Neupositionierungen und Entwicklung von neuen Narrativen verstehen: Das Buch von Albers verortet nicht nur die Moderne im Archaischen, sondern weist auch auf die künstlerische Auseinandersetzung mit Serialität und Wiederholung voraus. Mit Fragen etwa nach der Rolle von während der Herrschaft des Nationalsozialismus (aber auch des Kommunsmus) ins Exil-Gezwungenen, den Verhältnissen zu den Kolonien, unterschiedlichen Lebensweisen, den Handlungsräumen der Geschlechter oder dem Miteinander der Religionen rücken im Zeitraum zwischen 1945 und 1965 Themen in den Blick, mit denen neben einer Fortsetzung von Praktiken zur Kennzeichnung von Alterität auch Veränderungsprozesse greifbar werden, die uns heute helfen können, die Kunst und Kultur Europas in einer Kunstgeschichte der Welt adäquater zu platzieren.
Der Arbeitskreis hat sich zunächst als ein überregionales Kolloquium zum Austausch von Forschungsfragen, -ideen und -ergebnissen im Rahmen der unten ausgeführten Untersuchungsfelder konstituiert, um darauf aufbauend die weiteren Aktivitäten planen zu können. Wir freuen uns, wenn an der Zusammenarbeit Interessierte mit uns Kontakt aufnehmen.
Historischer Hintergrund
Wie in einem Brennglas trafen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa konkurrierende Phänomene der Moderne zusammen, bei denen Kunst eine identitätsbildende Funktion zukam: Nicht nur stellte sich die Frage, welche Geschichte und damit auch welche Traditionen beim Wiederaufbau der Gesellschaften eine Orientierung abgeben sollten und in welche Zukunft man schauen wollte. Auch die zuvor erfolgte Funktionalisierung von Kunst für eine menschenverachtende Politik machte eine Neubestimmung ihres Verhältnisses zur Politik dringend erforderlich. Dabei war die Referenz auf Gemeinschaft, die in den Jahrzehnten zuvor erfolgreich beschworen worden war, Warnung wie Orientierung zugleich. Wollte man die selbstzerstörerische Situation, in die sich die Menschheit hineinmanövriert hatte, befrieden, musste der Gemeinsinn, der offenbar mittels Kunst gestiftet werden kann, integrativ und nicht mehr exklusiv ausgerichtet sein, Ästhetik nicht mehr im Singular, sondern unter Berücksichtigung der heterogenen Strukturen moderner Gesellschaften im Plural gedacht, ausgehandelt und praktiziert werden.
Bis heute wird in der Kunstgeschichte unser Blick auf das Europa der Nachkriegszeit immer noch erheblich durch die Ideologie und Konstellation des Kalten Krieges überformt. Nicht nur werden die komplexen Verschränkungen in der Disposition von Kunst und Politik, die aus mehr Facetten als dem Gegensatz von Ost und West bestanden (Piotrowski 2005 (2009)), dadurch ausgeblendet. Auch die Tatsache, dass sich spätestens mit der Arts and Crafts Bewegung und den Avantgarden das Verständnis von Kunst greifbar veränderte und in den europäischen Gesellschaften bereits vor dem Zweiten Weltkrieg unterschiedliche Kunstkonzepte miteinander zu konkurrieren begonnen hatten (Berg/Fähnders 2009), wurde durch die Dominanz der politischen Nachkriegsordnung als die einzig maßgebliche Ordnung überlagert. Schon vor Jahrzehnten hat Serge Guilbaut wirkmächtig, wenn auch nicht unwiedersprochen herausgestellt, dass diese Vereinheitlichung aus politischen Interessen erfolgte (Guilbaut 1995 (1983); Ruby 1999): In der Frontstellung des Kalten Krieges war Kunst in der Nachkriegszeit als ein ideologisches Instrument genutzt worden. Dies ging mit einer Favorisierung von vornehmlich im New Yorker Kunstbetrieb vertretenen Positionen einher, die auf diese Weise in der Kunstgeschichte hegemonial werden und die Geschichtsschreibung formieren konnten.
Eine Konsequenz dieser inzwischen relativierten Dominanz ist, dass wir in Diskussionen über die Veränderungen des Kunstverständnisses, wie sie vor allem in Darstellungsformen ab den 1960er Jahren unübersehbar werden, weiterhin auf Erklärungsmodelle zurückgreifen, die mit Blick vornehmlich auf Phänomene in den USA entwickelt bzw. aus einer dortigen Perspektive verfasst wurden. Aus dem Blick sind dabei die spezifisch europäischen Phänomene und Kontexte geraten. Sie sind zugleich, wie etwa in der unter der Leitung von Okwui Enwezor realisierten Ausstellung Postwar 1945-1965. Kunst zwischen Pazifik und Atlantik gezeigt wurde, Teil einer global zu beobachtenden Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen (Enwezor/Siegel/Wilmes (Hg.) 2016).
Ihre Diversität und die Verschränkungen mit nicht-eurozentrischen Kunstgeschichten gilt es allerdings in ihren Besonderheiten und historischen Bedingtheiten noch viel intensiver zu erforschen. Die gesellschaftsformierende Funktion von Handwerk in den europäischen Gesellschaften, die Dichte von unterschiedlichen Institutionen und Instanzen des Kunstbetriebs, die sich genauso mit Vorstellungen von Demokratie und Meinungsbildung verbinden wie mit Abgrenzungspraktiken von Einzelgruppen (z.B. Eliten oder fixierten Identitäten) sind hierbei genauso wichtige Forschungsfelder wie die Auseinandersetzungen mit Kolonialismus und dem kolonialen Erbe, begleitet von Versuchen, mit Referenzen auf einen gedanklich konstruierten Kulturraum Europa nationale Grenzen zugunsten einer transnationalen, jedoch keineswegs universalen Kunst überwinden zu wollen.
1. Prozesse: Kunst als Handwerk
Eine Form der praktischen Umweltgestaltung fanden Künstler*innen im Handwerk, dem in der Nachkriegszeit eine besondere Bedeutung zukam. Durch das Erproben einer großen Varianz an handwerklichen Fertigungstechniken modellierte man die Gestaltung des Alltags, orientiert an gemeinschaftlichen Bedürfnissen, die ebenso durch Zerstörung, Vertreibung und Exil gebildet wurden, als auch durch die Abgrenzung von überholten politischen Idealen. Nicht alleine der Vorgang der Designfindung, sondern eben auch der ganz praktische kunsthandwerkliche Herstellungsprozess von Alltagsgegenständen bot Raum für die Verhandlung vielfältiger sozialer Diskurse.
Dabei war das Kunsthandwerk selbst in einer Zeit der voranschreitenden industriellen Fertigung und der technischen Innovation, wie etwa durch synthetisch hergestellte Werkstoffe, vor die Herausforderung gestellt, seinen Platz innerhalb der Gesellschaft neu zu verorten. Anni Albers beispielsweise erprobte die Verarbeitung neuer Materialien im Prozess des Handwebens. Die Verbindung aus natürlichen und synthetisch hergestellten Materialien löst sich dabei von einer rein bedeutungsstiftenden Funktion und wird selbst prozessprägend. Ebenso war die Verbindung von ursprünglicher Volkskunst mit zeitgenössischen Abstraktionen ein bestimmendes Gestaltungsprinzip der Künstlergruppe CoBrA, die dieses nicht nur in Ölmalereien, sondern unter anderem auch im Medium der Keramik umsetzte. Im Zentrum der künstlerischen Prozesse stand vermehrt die durch Handarbeit geschaffene Authentizität, was eine Öffnung für Gattungen nach sich zog, die weniger einem traditionellen Handwerksbegriff untergeordnet waren. Das Schaffen mit der Hand ist auch bei der Schweizer Künstlerin und Heilpraktikerin Emma Kunz von zentraler Bedeutung und wird beim Fertigen ihrer Zeichnungen zum inneren Heilungsprozess. Gerade für Europa stellt sich die Frage nach der Auflösung einer bipolaren Betrachtung der Künste, stellte doch hier das in Zünften organisierte Handwerk seit dem Mittelalter auch eine politische Macht mit hohem Ansehen dar, das parallel zur Feudalordnung die Gesellschaft vor allem in den Städten mitformte. Mit den veränderten Bedingungen der Moderne verlor das Handwerk zwar seine alte Bedeutung, zugleich blieb es jedoch nicht zuletzt auf symbolischer Ebene ein wichtiger Faktor, den man als Garanten für Stabilität und als einen Gegenpol zur maschinellen Produktion zu nutzen suchte.
Während die Kunstgeschichte sogenannte primitive Volkskunst im Allgemeinen als Vorläufer der Avantgarden anerkannt hat, findet eine solche Beachtung für traditionelles Kunsthandwerk (außerhalb des deutschsprachigen Raums) im designtheoretischen Diskurs kaum statt (Iselin 2012). Der Arbeitskreis fragt folglich auch nach dem Potential des Handwerks als kunsthistorischer Kategorie, welche Diskurse verhandelt, die in einer Nachkriegsgesellschaft von Künstler*innen, Designer*innen und Architekt*innen geführt wurde und welche gleichzeitig durch ihre eigene gesellschaftliche Relevanz kulturelle Traditionen (ab)bildet.
2. Öffentlichkeiten: Das Erbe der Aufklärung und seine Herausforderungen
Die aufklärerische Idee, mit Kunst als einer eigenen Instanz gesellschaftliche Werte vermitteln zu können, hatte in der frühen Moderne in Europa ein dichtes und facettenreiches System von Kunst entstehen lassen. Zwar waren dadurch breite Möglichkeiten zur Teilhabe an gesellschaftsrelevanten Diskussionen eröffnet worden, dieses System orientierte sich jedoch weitgehend an bildungsbürgerlichen Vorstellungen, die die Vielfalt von Kultur hierarchisierten und dabei ein Subjektideal propagierten, welches für viele lebensfremd war. Nach den Erfahrungen von Vertreibung, Genozid und Krieg, für deren ideologische Rechtfertigung auch die Künste funktionalisiert worden waren, verfolgten zahlreiche Menschen im Kunstbetrieb in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg das Ziel, dieses partikulare Kunstverständnis zu weiten. Mehr als zuvor wurden nun massenkulturelle, populäre Phänomene in die Kunst einbezogen oder verhandelt. Auch Konzepte von Volkskultur, die in den Jahren zuvor zur Stabilisierung des Faschismus gekapert und missbraucht worden waren, blieben – wie bereits im Zusammenhang mit der Bedeutung von Handwerk erwähnt – ein Thema, wurden allerdings einer Revision unterzogen. Nicht zuletzt änderten sich die Motive, Formen und Materialien, die außereuropäischen Kulturen entlehnt waren oder die auf jene referierten, wie etwa das Œuvre von Joaquim Rodrigo zeigt. Mit seiner Malpraxis und Symbolsprache verwies er auf die kolonialisierten Gesellschaften im heutigen Angola. Er übte so auf spezifische Weise Kritik an der brutalen Kolonialpolitik im diktatorisch regierten Portugal (Lapa 2020).
Die Funktionalisierung kunsthistorischer Erzählung für die Politik des Kalten Krieges und die damit verbundene Fokussierung auf den Gegensatz der politischen Systeme hat in der Kunstgeschichte dazu geführt, dass die in Europa geführten Diskussionen und Praktiken gerade zum künstlerischen Umgang mit Populärkultur bislang nur wenig Beachtung fanden. Während die Klassifikation des US-Amerikaners Clement Greenberg von Kitsch, die apodiktisch nur einen Ausschnitt massenkultureller Phänomene diskutiert (Greenberg 1939), immer noch als maßgeblich gilt (Brzyski 2013), sind zeitgleich publizierte Positionen und Ausstellungen, die in Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg statt einer hierarchisch bewerteten Alterität Prozesse und mögliche Symbiosen propagierten, weitgehend unbekannt geblieben. Texte wie etwa Intime banaliteter (1941) oder Sozialistische Heringe, realistische Ölfarben und Volkskunst (1950) des aus Dänemark stammenden Künstlers Asger Jorn (Jorn 1993a und Jorn 1993b), Dispute der CoBrA-Künstler*innen untereinander sowie mit den aus dem außereuropäischen Exil heimkehrenden Surrealist*innen über eine Kunst, die das Verhältnis zur Politik neu konfiguriert (Kurczynski 2020), gilt es genauso wiederzuentdecken wie die Konzepte von Kunst in den sozialistischen Staaten hinsichtlich ihrer bürgerlichen Traditionen und deren Neukonturierungen weiter erforscht werden müssen.
Damit stellt sich zugleich die Frage nach einem spezifisch europäischen Verständnis von Kunst, das durch die in den 1930er und 1940er Jahren erzwungenen Emigrationen an anderen Orten der Welt neue Wurzeln schlagen konnte, und wie es dabei als travelling concept durch andere Kontexte auch Veränderungen erfuhr. Umgekehrt gilt es in den Blick zu nehmen, wie außereuropäische Konzepte die Produktion und Rezeption von Kunst in Europa in der Zeit nach 1945 bereicherten und dabei neue Körper- und Subjekterfahrungen vermitteln konnten.
3. Institutionen: Universalität vs. Diversität
Durch Institutionen wie Kunstakademien, Museen, Landesgewerbeamt, Ausstellungshäuser, dem Feuilleton, Kunstzeitschriften und einem eigenen Ausbildungsgang Kunstgeschichte, die durch Kolonialherrschaft weltweite Verbreitung fanden, war in der Moderne ein aus Europa stammendes Konzept von Kunst universalisiert worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten in Europa die Verstrickungen dieser Institutionen in eine menschenverachtende Politik dazu, sie auf den Prüfstand zu bringen und neu aufzustellen oder nach Alternativen zu suchen. Nicht nur sollten Großausstellungen wie die wiedereröffneten Biennalen von Venedig oder die neugegründete documenta in Kassel statt nationaler Konkurrenz nun die Internationalität von Kunst als eine zivilisationsgeschichtliche, die Menschheit verbindende Errungenschaft betonen. Projekte mit kollaborativer Autor*innenschaft, zu denen auch die zahlreichen neugegründeten Ateliergemeinschaften und zum Teil dort produzierten Zeitschriften und andere Publikationen gehören, dienten dazu, Kunst als gemeinschaftsstiftende Instanz zu praktizieren. Die Exklusionen, die durch Kunst vorangetrieben und manifestiert worden waren, sollten nun endlich überwunden werden. Ausstellungen in öffentlichen Parks wie etwa in Sonsbeek Park in Arnhem in den Niederlanden, Angebote von Kunstfreizeiten in den neuen sozialistischen Betrieben der DDR oder öffentliche Symposien zum Wiederaufbau der kriegszerstörten Metropolen wie etwa in London – um nur einige bekannte Beispiele aufzuzählen – dokumentieren die damaligen Versuche, die Bevölkerung aktiv in Diskussionen über eine scheinbar universale Kunst einbeziehen zu wollen.
Allerdings halfen diese Aktivitäten aber auch zu verschleiern, dass europäische Staaten wie Großbritannien, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien oder Portugal als Kolonialmächte nach wie vor andere Konzepte und Praktiken von Kultur marginalisierten und ihren Kunstbetrieb nicht zuletzt durch den aus Kolonialbesitz erworbenen Reichtum finanzieren konnten. Auch Privatpersonen und Unternehmen in ganz Europa profitierten von diesem Kolonialismus. Künstler*innen, die wie Wifredo Lam trotz ihrer Erfolge selbst von rassistischen Ausgrenzungen betroffen waren, wählten in den 1950er Jahren dennoch bewusst Europa als Standort, weil sie hier nicht zuletzt aufgrund der institutionell abgesicherten Handlungsräume die größten Möglichkeiten sahen, sich für kulturelle Diversität auf Augenhöhe und die forcierte Propagierung von Kompositkultur einsetzen zu können (Cernuschi 2019).
Der Blick auf die Institutionen und Instanzen des Kunstbetriebs in den späten 1940er und 1950er Jahren in Europa ist von intensiven, widerstreitenden Aushandlungsprozessen über die Rolle von Traditionen und die Möglichkeiten der Kunst geprägt, die durch die vielschichtigen Kommunikationsstrukturen sehr breit und trotz Einschränkungen durch Zensur in manchen Ländern die Fragen nach Identitäten, Zuschreibungen und kulturellen Ordnungen problematisieren konnten. Nicht zuletzt stand dabei wie ein weißer Elefant das Erbe der jüdischen Kultur im Raum. Für sie in der Gegenwart einen adäquaten Platz finden zu können, stellte sich in der europäischen Nachkriegszeit als äußerst schwierig dar.
4. Historiografien: Geschichtsbilder als Zukunftsbilder?
Ein anhaltendes Topoi der Nachkriegszeit war die tiefgreifende Neuorganisation von Raum und Zeit bedingt durch die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, wie der Bewegung durch völlig unkenntlich gemachte Städte, die in Trümmer gelegt wurden, bis hin zu neuen Paradigmen der Orientierung, die in Sinnbildern wie der scheinbaren „Stunde Null“ festgehalten wurden. Welche neuen Konzepte von Zeitlichkeit sind dabei entstanden? Wie haben diese Diskussionen über Objekthaftigkeit, Vorstellungen von Materialien und Räumlichkeit geprägt? Inwiefern wurden Kategorien von Raum und Zeit zutiefst erschüttert, nicht nur durch die Zäsur des Krieges, sondern auch durch die fortwährende Begegnung mit dem Anderssein, die sich in einer Ära der Dekolonisierung verstärkte? Schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichtsschreibung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zeigt, dass Historiker*innen die Kategorien von Raum und Zeit als Begriffe etablierten, in denen neue Paradigmen des Geschichtsbewusstseins artikuliert wurden. Beispielhaft seien hier Carola Giedion-Welckers Moderne Plastik (1937) und Sigfried Giedions Raum, Zeit, Architektur (1941) angeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Problem des historischen Gedächtnisses vor allem in Film und Fotografie thematisiert. Dabei kehrte man zu jenen Debatten zurück, die in der Zwischenkriegszeit begonnen hatten und die von Kunst- und Architekturhistoriker*innen fortgeführt worden waren, die in außereuropäische Kontexte hatten emigrieren müssen. Darüber hinaus wurde das Prähistorische mit Studien wie Georg Kublers The Shape of Time (1962), die zwar alt-amerikanische Objekte aufgriffen, aber durch Geschichtskonzepte, die dem europäischen Denken verpflichtet waren, zu einem übergreifenden Thema sowohl für Künstler*innen als auch für Historiker*innen.
In den 1980er Jahren blickte Lawrence Alloway auf die zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück und argumentierte, die Instabilität von Europa als Konzept zu verstehen, das die Verhandlung von Identität zum Prinzip hat: Im Nachkriegseuropa, so schrieb er, „there was an unstable relationship between the sense of Europe as geography, a complex present place, and Europe as an historical entity, bound together by such themes as the Mediterranean tradition“ (Alloway 1984). In der jüngeren Vergangenheit haben Wissenschaftler*innen die Nachkriegszeit als prophetisch für unsere eigene Gegenwart bezeichnet: Hannah Feldman beschreibt André Malrauxs „Bilder der Vergangenheit als die Zukunft der Gegenwart“, während der Philosoph Anselm Haverkamp die 1950er Jahre in Europa als Latenzzeit bezeichnet, in der sich das vorbereitet, was nach 1960 zum Tragen kommt (Feldman 2014; Haverkamp 2004). Auch Béatrice Joyeux-Prunel und Richard Meyer kennzeichnen diese Jahre als strukturbildend für die Gegenwartskunst (Meyer 2013; Joyeux-Prunel 2021). Inwieweit sich solche Erzählungen von Kontinuität, Bruch und Prozess aus den spezifischen historischen Bedingungen der Nachkriegszeit ergeben und inwiefern diese noch der heutigen und davon ausgehenden Wissenschaft dienen, sind Fragen, die es in den Blick zu nehmen gilt.
Zitierte Literatur
Alloway, Lawrence: “Art in Western Europe: The Postwar Years, 1945–1955.” In: Alloway (Hg.): Network: Art and the Complex Present. Ann Arbor 1984, 37-52.
Berg, Hubertus van den/Fähnders, Walter: „Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung.“ In: Dies. (Hg.): Metzler Lexikon Avantgarde. Stuttgart/Weimar 2009, 1-19.
Brzyski, Anna: „Art, Kitsch, and Art History.” In: Monica Kjellman-Chapin (Hg.): Kitsch: History, Theory, Practice. Newcastle upon Tyne 2013, 1-18.
Cernuschi, Claude: Race, Anthropology, and Politics in the Work of Wifredo Lam. NewYork/Abingdon 2019.
Enwezor, Okwui/Siegel, Katy/Wilmes, Ulrich (Hg.): Postwar 1945-1965. Kunst zwischen Pazifik und Atlantik. München 2016 (zugl. Ausstellungskatalog München, Haus der Kunst).
Feldman, Hannah: From a Nation Torn.s Decolonizing Art and Representation in France, 1945-1962. Durham 2014.
Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition. Ravensburg: Maier, 1964 (zuerst 1941).
Greenberg, Clement: “Avant-Garde und Kitsch“ (1939). In: Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Hg. von Karlheinz Lüdeking, Übersetzung Christoph Hollender. Amsterdam/Dresden 1997, 29-55.
Guilbaut, Serge: How New York Stole the Idea of Modern Art. Abstract Expressionism and the Cold War. Chicago 1995 (zuerst 1983). Übersetzung Arthur Goldhammer.
Haverkamp, Anselm: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg. Berlin 2004.
Iselin, Regula: Die Gestaltung der Dinge. Außereuropäische Kulturgüter und Designgeschichte. Berlin, 2012.
Jorn, Asger: „Intime Banalitäten“. In: Ders.: Heringe in Acryl. Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft. Hg. von Roberto Ohrt. Hamburg, 2. Aufl. 1993, 13-20. (zuerst unter dem Titel „Intime banaliteter“. In: Helhesten 1. Jg. (1941), Heft 2, 33-38). (Jorn 1993a)
Jorn, Asger: „Sozialistische Heringe, realistische Ölfarben und Volkskunst“. In: Ders.: Heringe in Acryl. Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft. Hg. von Roberto Ohrt. Hamburg, 2. Aufl. 1993, 35-37. (zuerst unter dem Titel „Sociale sild og realistiske oliefarver“. In: Ausstellungskatalog Kopenhagen 1949: „Spiralen 1949/50“, 8-11; erste deutschsprachige Veröffentlichung in Cobra. Internationale Zeitschrift für moderne Kunst, Nr. 5 (1950), S. 4) (Jorn 1993b).
Joyeux-Prunel, Béatrice: Naissance de l’art contemporain. Une histoire mondiale, 1945-1970. Paris 2021.
Kubler, Georg: The Shape of Time. Remarks on the History of Things. New Haven 2008 (zuerst 1962).
Kurczynski, Karen: The Cobra Movement in Postwar Europe. Reanimating Art. New York/Abingdon 2020.
Lapa, Pedro: “Joaquim Rodrigo’s Painting. A Particularity in the Portuguese Case.” In: Lange, Barbara/ Hildebrandt, Dirk/ Pietrasik, Agata (Hg.): Rethinking Postwar Europe. Artistic Production and Discourses on Art in the 1940s and 1950s. Wien/ Köln/ Weimar 2020, 197-212.
Meyer, Richard: What Was Contemporary Art? Cambridge 2013.
Piotrowski, Piotr: The Shadow of Yalta. Poznan 2005 (London 2009, Übersetzung Anna Brzyski).
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